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„Es ist gar nicht so schlimm, wie behauptet wird“

Aufenthaltsort Treppenabgang zum Neckarufer | Foto: M. Schülke

Gute Zahlen, schlechte Zahlen: Am 1. Juni präsentierte der Leiter des Polizeireviers Neckarstadt Peter Albrecht auf Wunsch der Bezirksbeiräte die polizeiliche Kriminalstatistik mit Fokus auf die Neckarstadt-West.

Zahlen brauchen Einordnung

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Schon zu Beginn wird klar, dass die blanken Zahlen wenig Aussagekraft haben, weshalb es wichtig ist, dazu soweit möglich die Hintergründe zu erfahren und immense Anstiege aus polizeilicher Sicht eingeordnet zu bekommen. Aus diesem Grund werden hier im Artikel wenig Zahlen wiedergegeben, nur hier und dort, um einen Akzent zu setzen. Die präsentierte Statistik war* öffentlich einsehbar, wer sich also selbst informieren wollte, konnte dies tun (* Update 18.01.2017: Die internen Dokumente der Polizei wurden fälschlicherweise von der Stadt Mannheim veröffentlicht und inzwischen aus dem Bürgerinformationssystem entfernt. Wir haben die unten abgebildeten Deckseiten auf Wunsch der Pressestelle heute ebenfalls unkenntlich gemacht und den Text angepasst). Wer sich über unterschiedliche Werte in den drei behördlichen Dokumenten wunderte, sollte auf das jeweilige Datum achten und wissen, dass die Systeme der Polizei immer weiterzählen – Tag für Tag.

Massive Steigerungen durch „Holkriminalität“

Zum Start gab Kriminaloberrat Albrecht einen Überblick über die Zahlen und erläuterte auch die verschiedenen Deliktarten. So schlagen sich in der Gesamtzahl der  in der Neckarstadt(-West) begangenen Straftaten viele Vergehen nieder, deren Wirkung auf das Sicherheitsempfinden der Bewohner/innen eigentlich vernachlässigbar ist, wie z.B. das Erschleichen von Leistungen. Durch die günstige Lage des Polizeireviers in der Waldhofstraße an der Straßenbahnlinie 1 werden die erwischten Schwarzfahrer direkt an der Haltestelle abgesetzt und von den Beamten abgeholt.  Schon an dieser Stelle fiel zum ersten mal der Begriff „Holkriminalität“, der laut dem Neckarstädter Revierleiter einen Teil der rasant angestiegenen Kriminalitätsraten in manchen Bereichen erklärt (dazu ein Zitat aus dem schriftlichen Bericht: „So stiegen die erfassten Delikte wegen des Erschleichens von Leistungen im Bereich Neckarstadt-West von null im Jahr 2011 auf 206 Fälle im Jahr 2015 an“). Fährt die Polizei in einem Bereich die Kontrollen hoch, wird das sogenannte Dunkelfeld erhellt. Kriminalität, die womöglich schon immer im selben Maße vorhanden war, wird plötzlich sichtbar und findet sich in massiven Steigerungsraten wieder.

Serientäter beeinflussen Statistik enorm

Die Straßenkriminalität ist besonders im Bereich Taschendiebstahl stark angestiegen. Dazu gehört auch das sogenannte Antanzen. Zur Straßenkriminalität gehören aber z.B. auch Autoaufbrüche. In der Neckarstadt hatte vergangenes Jahr eine kleine Zahl jugendlicher Intensivtäter, die in einer Unterbringung für unbegleitete Minderjährige untergebracht waren, eine Vielzahl von Delikten begannen. Generell gilt bei Serientätern: Jeder einzelne Fall landet in der Statistik. Beschmieren Unbekannte in einer ganzen Straße alle Häuser mit Graffiti, ergeben sich daraus statistisch viele Sachbeschädigungen. Im Übrigen schlage sich die allgemeine Bevölkerungsstatistik natürlich auch in der polizeilichen Kriminalstatistik nieder.

Von 22 Sexualdelikten nur drei im öffentlichen Raum

Der Kommunale Ordnungsdienst der Stadt Mannheim fährt Patrouille am Neckarufer | Foto: M. Schülke

Die Anzahl der erfassten Sexualdelikte beläuft sich im kompletten Jahr auf 22 Fälle, wovon nur ganze drei überhaupt im öffentlichen Raum stattfanden. Die grassierende Angst vor Vergewaltigungen auf offener Straße scheint unter diesem Aspekt eher deplatziert. Solche Fälle sind äußerst selten. Gefahr droht da vielmehr im privaten Umfeld. Polizeioberrat Peter Albrecht gab diesbezüglich noch zu bedenken, dass die Medienberichterstattung bei Sexualdelikten überproportional ausführlich sei und den Eindruck verstärke, dass es unheimlich viele Fälle gäbe. Die Polizei geht dennoch von einer hohen Dunkelziffer aus, da – so die starke und bittere Vermutung – viele Frauen Vorfälle nicht zur Anzeige brächten, weil das Vertrauen in die Polizeiarbeit zerrüttet sei. Sicher wissen, könne man das aber natürlich nicht. „Wir gehen davon aus, dass die Anzahl dieser Belästigungen in den Sommermonaten nicht nur gefühlt hoch war, sondern tatsächlich vorhanden war“, heißt es in der schriftlichen Stellungnahme des Polizeireviers Neckarstadt. Wo Belästigung (nicht-sexueller Art) anfängt, liegt im Auge der Geschädigten, und ob die viel diskutierten Vorfälle sexueller Natur waren, ist auch nicht in jedem Fall eindeutig. Manche Menschen fühlen sich auch von Senioren belästigt, die ihnen ihre komplette Lebensgeschichte erzählen wollen, obwohl kein Interesse daran gezeigt wurde. Auf der Neckarwiese sind die Empfindlichkeiten, was das Kennenlernen Fremder angeht jedenfalls unterschiedlich. Sprachbarrieren tun ihr Übriges.

Viele Kontrollen führen zu hohen Fallzahlen

Neben dem Schwarzfahren fällt auch die Betäubungsmittelkriminalität unter das, was im Polizeijargon „Holkriminalität“ genannt wird. So wurden im Jahr 2015 die Kontrollen besonders im Bereich des Neckarufers immens erhöht, was zu entsprechend hohen Fallzahlen führte. Die erfassten Delikte haben sich so knapp verdoppelt. Wie das im Jahr zuvor bei ähnlich starken Kontrollen ausgesehen hätte, weiß dabei niemand. Oft sei es vorgekommen, dass den Zivilfahndern offen Drogen angeboten worden seien. „Die rennen nicht einmal weg“, wenn die Polizisten sich zu erkennen gegeben hätten, so Albrecht. Sie seien „gut gebrieft“, kennen das Prozedere und dass sie nach einer knappen Stunde auf der Wache wieder auf freiem Fuß seien.

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Keine akute Bedrohung, doch Drogenhandel bereitet der Polizei Sorgen

Unter der Kurpfalzbrücke haben Personen Zuflucht vor dem Regen gesucht, die im Fokus von Verdächtigungen stehen | Foto: M. Schülke

Gefunden wurde im letzten Jahr so ziemlich alles, was das Drogenlexikon hergibt: Von sogenannten „legal highs“ (u.a. Medikamente), über Marihuana bis zu harten Drogen. Der Standort böte Rahmenbedingungen, die Betäubungsmittelkriminalität begünstigten. Es habe sich herumgesprochen, wo man in Mannheim fündig würde, wenn man etwas kaufen wolle. Das bereite der Polizei große Sorgen. So auch, dass minderjährigen Schülern Drogen angeboten würden. Nichtsdestotrotz betonte Revierleiter Albrecht, dass von den Drogenhändlern für die normale Bevölkerung eigentlich keine Gefahr ausginge. Ein wichtiger Punkt in der Debatte um die Sicherheitsentwicklung im Quartier. In diesem Sommer wollte die Polizei die Kontrollen natürlich gerne weiterführen, doch die Fußball-Europameisterschaft stände vor der Tür, da seien die Beamten anderweitig im Stadtgebiet gebunden.

Starke Belastung der Polizeibeamten

Das Polizeirevier Neckarstadt | Foto: M. Schülke

Es folgte nun ein Überblick zur Belastungssituation der knapp 100 Beamten des Polizeireviers Neckarstadt. Die Überstunden in der Waldhofstraße belaufen sich bei den Ordnungshütern in einem Bereich zwischen 50 und 200 Stunden. Vor zehn Jahren seien noch ungefähr 14 Streifen im Stadtteil unterwegs gewesen, heute nur noch sieben. Diese seien im Jahr 2015 zu über 15000 Einsätzen gefahren. Nicht dramatisieren, aber dennoch ansprechen wollte der Revierleiter die zunehmende Gewalt gegen seine Beamten. Ein bis zwei Beamte sind eigentlich immer aufgrund von Verletzungen durch Gewalt gegen sie krankgeschrieben, berichtet er. „Das halten die jungen Beamten nicht bis 35 durch.“ Er sieht die Polizei als „Prellball für andere staatliche Maßnahmen“. Soll heißen, die Menschen sind sauer auf das Jobcenter oder ein Amt und reagieren die aufgestaute Wut am nächsten staatlichen Organ ab, das ihnen in die Quere kommt.

Maßnahmen zeigen Wirkung

Kritik an Aufsehen erregenden Aktionen wie den beiden letzten Razzien in der Mittelstraße wies Herr Albrecht zurück. Die Signalwirkung, die von den Razzien ausginge, zeige schon Wirkung. Viele Hausbesitzer meldeten sich seitdem von sich aus und meldeten dubiose Verhältnisse in ihren Häusern. Denn durch die Einsätze, an denen auch die Finanzbehörden federführend beteiligt waren, befürchteten sie, dass es ihnen womöglich ans Geld gehen könne. Man merke auch schon eine Veränderung, wenn man durch die Mittelstraße ginge: Aus vielen Freundschaftsvereinen seien wieder normale Gastronomiebetriebe geworden, auf die die Behörden mittels mannigfaltiger Kontrollmöglichkeiten Zugriff hätten.

Soziale Kontrolle verhindert Straftaten

So soll das künftige Leuchtturmprojekt „Marchivum“ aussehen. Es soll Menschen aus der ganzen Stadt und der ganzen Region in die Neckarstadt bringen | Bild: Schmucker und Partner

Der Polizist begrüßte ausdrücklich solche Initiativen wie den Zuzug des Stadtarchivs in die Neckarstadt-West. Solche Leuchtturmprojekte brächten Leute von außen in den Stadtteil. Nichts ließe Kriminalität besser sprießen als menschenleere, dunkle Ecken. Wenn normale Bürger Bereiche meiden, entstünden diese viel diskutierten rechtsfreien Räume. Der Kulturkiosk am Neumarkt war ein weiteres Projekt, das Revierleiter Albrecht dahingehend positiv hervorhob. Wo viele Augen hinsähen, fühlten sich Kriminelle nicht wohl, dort stiege die Gefahr entdeckt zu werden.

Positives Fazit des Revierleiters

Sinngemäß lautete das Fazit des Revierleiters Peter Albrecht an diesem Abend: „Die Menschen sollen in die Neckarstadt-West kommen, damit sie persönlich die Erfahrung machen, dass es dort gar nicht so schlimm ist, wie behauptet wird.“ Man könne hier durchaus ohne Angst auf die Straße gehen. Wer Herrn Albrecht kennt, weiß, dass er kein Mensch ist, der etwas beschönigt – er meint es so.

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