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Überwachung heißt jetzt Schutz – sonst ändert sich nix

Stadt Mannheim und Polizei nennen ihr Überwachungsprojekt inzwischen „Videoschutz“. Was harmlos klingt, bedeutet weiterhin Kontrolle.

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Seit Ende 2018 betreiben die Stadt Mannheim und das Polizeipräsidium ein Projekt zur intelligenten Videoüberwachung. Inzwischen firmiert dieses Projekt offiziell unter dem Begriff „Videoschutz“. Die Neubenennung erfolgte Anfang 2023 und wurde laut Polizeipräsidium Mannheim von den Projektverantwortlichen dort initiiert. Das Innenministerium bestätigte den neuen Begriff bei der Projektverlängerung. Die Stadt Mannheim begründet die Umbenennung damit, dass es vielmehr um einen Schutz der Bürger*innen als um eine Überwachung gehe.

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Auch sieben Jahre nach Einführung der „smarten“ Videoüberwachung mit KI, band die Technik noch wertvolles Polizeipersonal (Archivbild 2023) | Foto: M. Schülke

Begriffe mit Wirkung

Die semantische Umpolung ist kein bloßer Verwaltungsakt. Sie ist Ausdruck einer bewussten Kommunikationsstrategie. Der Begriff „Überwachung“ weckt Assoziationen an autoritäre Kontrolle, an allsehende Augen, an George Orwell. „Schutz“ hingegen klingt fürsorglich. Wer schützt, meint es gut. Kritiker*innen sprechen deshalb von einer gezielten Beschwichtigung.

Bereits 2018 sprach der einstige Fraktionschef der Grünen im Gemeinderat Dirk Grunert, heute Bildungsbürgermeister, von einer „freundlichen Verschleierungstaktik“ der Behörden. Gerichtet waren seine Worte an den damaligen Sicherheitsdezernenten Christian Specht (CDU), heute Oberbürgermeister, die treibende Kraft hinter dem Überwachungsbestreben, der sich so gar nicht in die Karten schauen lassen wollte.

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Der ehemalige Polizeipräsident Thomas Köber, Landesinnenminister Thomas Strobl und der damalige Sicherheitsdezernent Christian Specht (jetzt Oberbürgermeister) beim Start der Überwachung 2018 | Foto: M. Schülke

Schon ein Jahr nach Einführung der Kameras machte Specht deutlich, dass er die Maßnahme auch dann fortführen wolle, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen wegfielen. Dann müsse eben das Gesetz geändert werden. Und genau daran arbeiten Specht und Innenminister Strobl seitdem – noch ohne Erfolg.

Wenn Überwachung nie endet

Wenn das Ziel ist, die Überwachung kriminalitätsbelasteter Orte fortzuführen, selbst wenn dort keine Kriminalität mehr festgestellt wird, was spricht dann dagegen, einfach alles zu überwachen, unabhängig von der Gefahrenlage? Wo bleibt der Unterschied zwischen einem einst problematischen Ort und irgendeinem Straßenzug, an dem nie etwas geschah? Wo jemals Kameras hingen, würden sie nie mehr abgehängt. Weil sich Kriminalität immer auch in unbeobachtete Zonen verlagert, werden aber ständig neue Orte überwacht, und keiner fällt mehr heraus.

Der neue Begriff setzt sich durch

Dass das Projekt nun offiziell „Videoschutz“ heißt, spiegelt sich deutlich in den Kommunikationskanälen der Behörden wider. Eine Auswertung der Webauftritte zeigt: Auf der Webseite der Stadt Mannheim dominiert seit 2023 der Begriff „Videoschutz“. Gleiches gilt für das Polizeipräsidium Mannheim und das Innenministerium Baden-Württemberg. Während der Begriff „Videoüberwachung“ früher regelmäßig verwendet wurde, ist er heute dort kaum noch zu finden.

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Alle Bürger*innen auf dem Alten Messplatz werden verdachtsunabhängig überwacht | Foto: M. Schülke

Wer antwortet wann und wie?

Die Stadtverwaltung antwortete auf eine entsprechende Presseanfrage mit erheblicher Verzögerung, im Gegensatz zum Polizeipräsidium, das noch am selben Tag reagierte, und dem Landesinnenministerium, das bereits einen Tag später Stellung nahm. Die Antwort der Stadt kam fast zwei Wochen später und bestand zu großen Teilen aus einem werblich formulierten Loblied auf das Projekt „Videoschutz“. Die wenigen sachlichen Informationen zu Zeitpunkt und Begründung der Begriffsumstellung gingen darin fast unter.

Die Stadt betont, dass die Kameras Straftaten verhindern, Täter*innen abschrecken und bei Gefahr schnell Hilfe ermöglichen sollen. Ob die Maßnahme tatsächlich nützt, ist derzeit schwer zu beurteilen. Zu häufig liest man im Polizeibericht von Straftaten auf dem Alten Messplatz, bei denen recht deutlich wird, dass keine Streife rechtzeitig dort war und trotz Videoaufzeichnung noch dringend Zeug*innen gesucht werden.

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Mangelnde Transparenz von Anfang an

Schon bei der Einführung der ersten Kameras am Alten Messplatz 2018 kritisierte das Neckarstadtblog mangelnde Transparenz. Die Stadt mauerte. Sie erklärte gegenüber der Presse, den Kameratyp nicht zu kennen, obwohl sie ihn offenkundig bestellt haben musste. Sie nannte keine Termine, als ob mit der ausführenden Firma nichts vertraglich geregelt gewesen wäre. Aufträge wurden vergeben, etwa an Siemens, ohne dass Informationen über öffentliche Ausschreibungen der Presse auf Nachfrage genannt wurden. Erst als die Kameras montiert und angeschaltet waren, gab es plötzlich Informationen.

„Herr Specht, was wir heute von Ihnen gehört haben, ist eine freundliche Verschleierungstaktik“

Sensible Orte im Blickfeld

Die Überwachung greift an besonders sensiblen Punkten ein. Bis heute ist nicht öffentlich nachvollziehbar, ob Kameras Eingänge zu Arztpraxen filmen. Am Alten Messplatz befinden sich Praxen für Urologie, Onkologie, Psychotherapie und Psychiatrie. Bei Stichproben stellte sich heraus: Die Behörden hatten mit den Inhaber*innen dieser Praxen nicht über die Überwachung gesprochen. Teilweise wussten die Behandelnden nicht einmal, dass ihre Eingänge von Kameras erfasst wurden. Die nachträgliche Verpixelung solcher Bereiche spielt für das Gefühl, gefilmt und überwacht zu werden, kaum eine Rolle. Nicht erst die tatsächliche Videoaufzeichnung, sondern bereits der Eindruck, gefilmt zu werden, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und anderer oberster Gerichte entscheidend für die Frage eines Grundrechtseingriffs.

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Objekte von Menschen unterscheiden ist ein erster Schritt für die künstliche Intelligenz einer automatisierten Videoüberwachung | Foto: I.D.

Erkennungsmuster und Bewegungsprofile

Wie die eingesetzten Algorithmen funktionieren, bleibt ein algorithmisches Geheimnis. Die Behörden argumentieren mit Datenschutz. Wenn das System zuverlässig funktioniere, blieben die Bildschirme schwarz, Gesichter würden nicht analysiert. Doch die Videoüberwachung in China zeigt: Menschen lassen sich längst zuverlässiger am Bewegungsprofil erkennen. Genau das analysiert auch die Mannheimer Software. Bewegungsprofile lassen sich erstellen. Was eine rechtschaffende Polizei in Deutschland natürlich niemals tun würde, bis eine autoritäre Partei einmal die Regeln ändert.

Der „Videoschutz“ in den Medien

Auch Medien übernehmen das neue Wording. Eine Google-Suche auf den Seiten des Mannheimer Morgen zeigt, dass „Videoschutz“ mittlerweile häufiger verwendet wird als „Videoüberwachung“, insbesondere in aktuellen Beiträgen. Dabei bleibt oft unklar, ob der Begriff kritisch hinterfragt oder unreflektiert übernommen wird.

Was bleibt unter dem Strich?

Mit der begrifflichen Verschiebung von „Überwachung“ zu „Schutz“ haben die Behörden eine Debatte verschoben. Die Maßnahme selbst blieb unverändert. Kameras filmen, Algorithmen analysieren, Daten werden gespeichert. Nur das Wording klingt nun beruhigender.

Doch wer kontrolliert die Kontrolleure? Die Presse nicht. Die darf nicht einmal erfahren, ob die Kameras bei öffentlichen Versammlungen rechtzeitig ausgeschaltet wurden. Protokolle darüber unterliegen dem Datenschutz.

Und wie umfassend sich das Pilotprojekt künftig über das gesamte Stadtgebiet erstrecken wird, ist längst keine theoretische Frage mehr. Die ersten Schritte dazu sind gemacht.

Quellen: Auskünfte Stadt Mannheim, Polizeipräsidium Mannheim, Landesinnenministerium, eigene Recherchen