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Standpauke an den „kleinen Mann“ in uns

Das Neue Ensemble inszeniert „Wilhelm Reichs Rede an den kleinen Mann“ im Theater Felina-Areal. Unser Autor weiß, was das Publikum erwartet.

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Christian Birko-Flemming sitzt auf einem schicken Designersessel, der die Extravaganz der 1950er Jahre heraufbeschwört. Sein Kostüm, eine altmodische Anzughose mit weißem Hemd und Hosenträgern, lässt eher an die 20er oder 30er Jahre denken. Somit deckt die minimalistische Ausstattung bereits die entscheidende Zeitspanne im Leben des Autors der „Rede an den kleinen Mann“ ab.

Ein kurzer Blick in Reichs Biografie

Wilhelm Reich wurde 1897 in Österreich geboren und gehörte zur ersten Generation von Psychoanalytikern im Gefolge Sigmund Freuds. In „Die Massenpsychologie des Faschismus“ versuchte er, die Herausbildung faschistischer Strukturen durch die repressive Sexualmoral des bürgerlichen Zeitalters zu erklären. In „Die Sexuelle Revolution“ zog er den umgekehrten Schluss, dass eine freie Gesellschaft die Befreiung der Sexualität voraussetzt. Da seine eigensinnige Auffassung der psychoanalytischen Konzepte und Methoden bei seiner Zunft auf Unverständnis stieß, fand er sich bald von dieser isoliert. Dies war der Beginn eines wissenschaftlichen Außenseitertums, das sich bis an sein Lebensende fortsetzen sollte. 1939, im amerikanischen Exil, vollzog Reich den Sprung in die Esoterik. Er glaubte mit der sogenannten Orgonenergie eine rätselhafte Strahlung entdeckt zu haben, welche er zur Heilung diverser Krankheiten ausnutzen wollte. 1957 starb er in Haft, da er im Zusammenhang mit den von ihm entwickelten Orgon-Akkumulatoren von den amerikanischen Behörden des Betrugs verdächtigt wurde.

Das Neue Ensemble und der Regisseur Rainer Escher

Seit seiner Gründung im Jahr 2009 dient das Theater Felina-Areal in der Holzbauerstraße als Spielstätte für das Neue Ensemble, eine Gruppe freier Theaterschaffender aus Mannheim und Umgebung. Der überwiegende Teil der zahlreichen Produktionen, welche das Ensemble im Laufe der Jahre hier realisiert hat, ist unter der Leitung von Regisseur Rainer Escher entstanden, der seit den frühen Achtzigerjahren in der freien Theaterszene aktiv ist. Das Schaffen Eschers und seines Teams ist trotz seiner Qualität auch im Stadtteil noch immer ein Geheimtipp. Besonders für die Einwohner*innen der Neckarstadt gilt es also, die Arbeit eines Ensembles zu entdecken, das das zeitgenössische Welttheater buchstäblich zu uns vor die Haustür holt. Dies lässt sich bereits durch einen flüchtigen Blick auf einige der Erst- und Uraufführungen belegen, welche Escher in den letzten Jahren auf die Bühne des Theaters Felina-Areal gebracht hat. Sein Gespür für den Zeitgeist bewies er zum Beispiel 2010 durch seine Inszenierung von Uzodinma Iwealas Roman „Du sollst Bestie sein!“, welcher 2015 durch die Netflix-Verfilmung „Beast of no Nation“ weltberühmt wurde. Neben vielen anderen Projekten präsentierte er 2012 gleich zwei deutschsprachige Erstaufführungen wichtiger zeitgenössischer Autoren aus Frankreich: Marie N‘Diayes „Schlangen“, sowie „Die Vorhölle“ des Soziologen Luc Boltanski. 2015 folgte die Uraufführung von Peter Handkes „Ein Jahr aus der Nacht gesprochen“, um nur einige der namhaftesten lebenden Autoren zu nennen, die Escher mit Erstaufführungen bedachte.

Für 2019 hat Escher außerdem bekanntgegeben, dass seine nächste Inszenierung einen Text Alain Badious zur Grundlage haben wird. Badiou gilt vielen Kommentatoren als einer der wichtigsten lebenden Gegenwartsphilosophen. Erstaunlicherweise ist dessen dramatisches Werk hierzulande noch völlig unbekannt. Escher leistet also auf den Bühnen des Theaters Felina-Areal weiterhin Pionierarbeit.

Der Redner erwartet das Publikum

Die Sitzreihen im kleineren der beiden Säle des Theaters sind im Viereck aufgestellt, dessen Innenfläche grün markiert ist und Birko-Flemming als Bühne dient. Der Bereich wurde von Holger Endres (Bühne) durch schwarze Klebestreifen zu Decke hin abgeschlossen. Die Assoziation mit einer Zelle oder einem Glaskasten liegt nahe, in den das Publikum aus dem Schatten heraus hineinschaut. Als einziges Requisit gibt es hier nur ein Schachbrett, auf dem ein Spiel bereits im vollen Gang ist, so wie Birko-Flemming bereits in seiner Rolle verharrt, als das Publikum den Saal betritt.

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Der Protagonist wartet schon | Foto: Christian Kleiner / Pressefreigabe

Nachdem die Zuschauer Platz genommen haben, erklingt aus dem Off ein Text von Hans-Magnus Enzensberger, nachzulesen im Programmheft, in welchem Wilhelm Reichs Lebenslauf in einer lakonischen Mischung aus Anerkennung und Spott zusammengefasst wird. Birko-Flemming schminkt währenddessen bedächtig sein Gesicht. Schwarz und Rot auf Weiß. Die linke Gesichtshälfte gleicht bald der ikonischen Maske des Mephisto, aus der gleichnamigen Klaus-Mann-Verfilmung von 1981. Darin geht es um einen Schauspieler, der sich vom Faschismus verführen lässt. Auf der rechten Seite verwischt er die Schminke, sodass er von dieser Seite betrachtet eher einem wütenden Dämon des japanischen Kabuki-Theaters ähnelt. Und tatsächlich beginnt der Schauspieler innerhalb der engen Grenzen seines Bühnenkastens bald zu wüten. Das Publikum um ihn herum scheint ihn einzuengen und er adressiert es während seines feurigen Monologs immer wieder ganz direkt. Bald entsteht der beunruhigende Eindruck, dass vielleicht wir selbst, das Publikum, der „kleine Mann“ sein könnten, gegen den sich die Wut des Sprechers richtet, und nicht etwa die Hetzer*innen und AfD-Wähler*innen draußen auf der Straße und in den sozialen Netzwerken, die wir als Theaterbesucher*innen gerne weit von uns Weisen möchten.

Wer ist der „kleine Mann“?

Aber was für eine Figur ist dieser „kleine Mann“, gegen den sich Reichs Zorn richtet überhaupt? Regisseur Rainer Escher schreibt in seinem Pressetext: „Wilhelm Reichs Adressat in seiner ‘Rede an den kleinen Mann’ aus dem Jahr 1948 ist keine soziologische Bezeichnung, er ist eine psychologische Dimension, eine Haltung. Es ist der Typus ‘Kleiner Mann’, der immer nach oben schaut, der immer hoch hinaus will. Doch immer sind ‘die anderen’ Schuld, dass er nicht dort hingelangt.“

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Gesellschaftsdiagnose mit Unschärfe

Durch seine psychologische Verallgemeinerung gelingt es Reich, pointiert die Handlungsmuster und Mentalitäten aufzuspießen, welche zur Herausbildung eines repressiven gesellschaftlichen Klimas und, in der Konsequenz, autoritärer Staatssysteme beitragen. Doch liegt in dieser Verallgemeinerung auch die Schwierigkeit und die – man muss es so deutlich sagen – Peinlichkeit dieses Textes begründet: Durch seine Konstruktion des „kleinen Mannes“, wird im Umkehrschluss deutlich, dass Reich sich selbst als einen der Großen betrachtet. Seine zeitdiagnostische Rede droht damit fortlaufend zur ohnmächtigen Selbstverherrlichung eines unverstandenen Außenseiters zu verkommen. Entsprechend büßt seine Diagnose auch an historischer Detailschärfe ein, wenn etwa Faschismus und Bolschewismus für ihn zu austauschbaren Figuren der Autorität verschwimmen, welchen der „kleine Mann“ sich eifrig unterwirft. Der Mannheimer Morgen überschrieb seine Kritik  der „Rede“ mit den Worten „Ein Stück, aktueller denn je“ (Anm. d. Red.: hinter der Bezahlschranke). Es ist leicht sich vorzustellen, was zu dieser euphorischen Auffassung geführt hat. Reichs Text scheint sehr gut in eine Zeit zu passen, in welcher mit Pegida und AfD, der „kleine Mann“ sich auf der politischen Bühne wieder nachdrücklich Gehör verschafft. Jedoch verkennt eine solche vorbehaltlose Identifikation mit Reichs Position die Ambiguität des Textes, welche für diese Inszenierung zentral ist. Denn Escher und Birko-Flemming sind sich dieser Spannung im Herzen des Textes sehr bewusst, und tun alles, um sie in den Vordergrund der Aufführung zu rücken.

Aus der Zeit gefallen

Aber ist es überhaupt der historische Reich der hier spricht? Ja und nein. Trotz Kürzungen hält sich die Inszenierung ziemlich genau an die Textvorlage. Ab und zu greift Birko-Flemming einige Blätter aus einem Papierhaufen heraus und liest Auszüge aus Nietzsche, dem Surrealistischen Manifest und eigenen Werken vor. Die Vielfalt der Stimmen, mit welchen der Schauspieler spricht, löst die Vorstellung von einer psychologisch kohärenten Person, die hier verkörpert würde, auf. Eher handelt es sich um einen aus der Zeit gefallenen Reich, der noch immer aus der Zelle heraus spricht, in der er verstorben ist und der sich noch immer als unverstandenes Genie feiert und die Lebenden mit seinem Zorn überzieht.

Während einer der lustigsten Passagen dieses – bei allem Ernst – auch mit Lachern gespickten Abends, schwingt sich der Sprecher zu einer seltsamen Parabel auf, in der es um Hennen geht, welche von einem Adler ausgebrütet werden. Der Adler, der auf Adlerbrut hofft, wird ständig enttäuscht von den Hennen, die, kaum geschlüpft, von Aasgeiern verführt und unterworfen werden. Eines ist am Ende der Vorstellung klar: Reich sieht sich als Adler. Der Abend aber scheint mit der Frage auszuklingen, wie man sich in einer Welt zurechtfinden soll, in welcher die Figur des Adlers undenkbar geworden ist.

Die nächsten Vorstellungen finden jeweils um 20 Uhr am Mittwoch, 6. Februar und Samstag, 9. Februar 2019 statt, weitere jeweils um 19:30 Uhr am Mittwoch, 20. März (ausverkauft) und Donnerstag, 21. März 2019.

Karten: http://theater-felina.de/http/-/theater-felina-areal-de/Karten/

Theater Felina-Areal, Holzbauerstraße 6-8, Neckarstadt-Ost
Webseite: www.theater-felina.de

Neues Ensemble
Webseite: www.neuesensemble.de
Facebook: fb.com/neuesensemble


Transparenzhinweis: Der Artikelautor Patrick Kokoszynski hat für drei Inszenierungen des Neuen Ensembles die Musik komponiert.

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